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Wachstum, Wachstum... über alles!

Welche Rolle spielt das Geld?

Von: Helmut Creutz

Jeder weiß, dass es in der Natur für jedes Wachstum eine optimale Obergrenze gibt - kein Baum wächst in den Himmel und kein Mensch über das 20. Lebensjahr hinaus.

Jeder weiß auch, dass man bei gleichbleibender Leistung und gleichbleibendem Einkommen normalerweise nicht ärmer werden kann. Tatsächlich müsste auch ohne Wirtschafts­wachstum jeder seinen Wohlstand durch weitere Anhäufung langlebiger materieller und geistiger Güter steigern können, bei steigender Produktivität sogar mit sinkender Arbeitszeit!

Warum aber drohen uns Öko­nomen Verluste an, wenn sich die Wirtschaftsleistung stabili­siert? Warum werden Politikern die Knie weich, wenn die Wachs­tumsraten gegen Null zu sinken drohen? Warum rufen Gewerk­schaften und Unternehmerver­bände unisono nach Wirtschafts­wachstum und warum wagen selbst die Grünen kaum noch auf die damit verbundenen Umweltfolgen hinzuweisen? Was ist die Ursache dieses frag­würdigen Verhaltens? - Eine Antwort finden wir in der Ein­kommensverteilung.

Die Modalitäten der Einkommensverteilung:

Bekanntlich wird das Sozialpro­dukt bzw. Volkseinkommen in jedem Jahr zwischen Kapital und Arbeit aufgeteilt. Der Staat greift wiederum auf diese Ein­kommen zurück, beim Kapital mit nachlassendem Erfolg, bei der Arbeit umso gründlicher. Die Natur, die Grundlage allen Wirtschaftens und Wohlstands, wird dagegen immer noch als kostenlose Quelle betrachtet und geht weder in die Kalkula­tionen noch die Verteilungsrech­nungen ein.

Wächst nun die Wirtschaftslei­stung und damit das Volksein­kommen zum Beispiel um zwei Prozent, dann können auch die Kapital- und Arbeitseinkom­men und damit die des Staates um zwei Prozent zunehmen, ohne dass es zu irgendwelchen Schwierigkeiten kommt. Ver­langt aber eine der Bezieher­gruppen mehr als jene zusätzlich erwirtschafteten zwei Prozent, dann müssen sich die anderen zwangsläufig mit weniger zu­frieden geben.

Überprüfen wir vor diesem Hintergrund die tatsächlichen Leistungs- und Verteilungsent­wicklungen in Deutschland, und zwar bezogen auf die wichtig­sten Größen, dann ergeben sich langfristig betrachtet folgende Relationen (siehe Tabelle A). Vergleicht man die Anstiegs­quoten in Tabelle A, dann fällt auf, dass diese bei den vier real­wirtschaftlichen Größen relativ ähnlich sind, lediglich die Lohn-­Nettogröße liegt deutlich dar­unter. 

Völlig aus dem Rahmen aber fallen die fast explosiven Anstiegsquoten der beiden monetären Vergleichsgrößen, wobei die Zinserträge der Ban­ken in etwa mit der Schulden­zinsbelastung in unserer Volks­wirtschaft gleichzusetzen sind. Während diese Bankzinser­träge 1950 mit 3 Mrd. DM (1,53 Mrd. €) und drei Prozent des BIP noch ziemlich belanglos waren, hatten sie im Jahr 2000 mit 724 Mrd. DM (370 Mrd. €) bereits 18 Prozent des BIP er­reicht, gemessen am Volksein­kommen sogar 25 Prozent!

Diese Wiedergabe der statistisch ausgewiesenen Gesamtgrößen berücksichtigt jedoch nicht, dass die Bevölkerung in Deutschland in den 50 Jahren von 47 auf 82 Millionen auf das 1,7fache angestiegen ist, die Anzahl der Arbeitnehmer von 14 auf 35 Millionen und damit auf das 2,7fache. 

Die wirklichen Entwicklungsrelationen werden darum erst deutlich, wenn man die Milliardenbeträge auf die Einwohner bzw. Arbeitnehmer umrechnet (siehe Tabelle B). Wie aus Tabelle B ersichtlich ist, sind also nicht nur die Pro-Kopf-Nettoeinkommen der Arbeitnehmer weit hinter den Entwicklungen der Wirtschaftsleistung zurückgeblieben, sondern auch die Bruttoeinkommen. 

Gemessen an der Entwicklung des BIP nahmen diese Bruttoeinkommen nur um 74 Prozent zu, die Nettoeinkommen sogar nur um 57 Prozent. Dagegen sind die Geldvermögensbestände und mit ihnen die Zinserträge von 1950 bis 2000 fünf bzw. sechs Mal so rasch angestiegen wie das BIP und neun bzw. zehn Mal so rasch wie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer!

Auf Grund der unterschiedlichen Entwicklungen der realwirtschaftlichen und monetären Größen kommt es bei der Verteilung der Einkommen zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen. Diese Einkommensverschiebung wird durch die Konzentration der Vermögen und Zinseinkommen bei einer Minderheit noch verstärkt. 

So verfügt nach offiziellen Erhebungen die ärmere Bevölkerungshälfte nur über vier Prozent der Geldvermögen, die reichere über 96 Prozent. Und auch bei dieser reicheren Hälfte konzentriert sich das Vermögen überwiegend beim letzten Zehntel. Mit dieser Verteilung erklären sich auch die wachsenden Diskrepanzen zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft.

Kapital bekommt Erstzugriff

Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Kapital, und hier vor allem das Geldkapital, bei der Verteilung immer den Erstzugriff hat. Seine Ansprüche, resultierend aus Geldvermögen bzw. Schulden mal Zinssatz, sind nicht nur vorab vertraglich festgelegt, sie nehmen, bedingt durch den Automatismus des Zins- und Zinseszinseffekts, auch noch von Jahr zu Jahr zu. Und diese Ansprüche sind unausweichlich einzuhalten, unabhängig davon, ob die Wirtschaft ausreichend, unzureichend oder überhaupt gewachsen ist. Das heißt, je geringer das Wachstum der Wirtschaft, desto dramatischer wirken sich die Folgen der festliegenden und sogar weiter wachsenden Ansprüche des Geldkapitals aus.

Auf Grund dieser Vorrangstellung des Geldkapitals bleiben für die Unternehmen, vor allem die verschuldeten, nur Einsparungen im Lohnbereich oder Rückstellungen von Investitionen übrig. Beides führt zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit einem weiteren Rückgang der Kaufkraft, der die Folgen des Konjunktureinbruchs wiederum verstärkt. Auch die konjunkturfördernden Möglichkeiten des Staates schwinden mit sinkenden Steuereinnahmen, vor allem wenn der Staat bereits in der Schuldenfalle steckt. Statt die Wirtschaftstätigkeit zu beleben, weicht er darum ebenfalls in Investitions- und Personalreduzierungen aus.

Der Präsident der Landeszentralbank Niedersachsen, Prof. Helmut Kotz, hat dieses Verteilungs-Dilemma in seiner Neujahrsansprache 2001 einmal so umschrieben:

„In der unvollständigen Welt, in der wir leben, ... ist Arbeitslosigkeit der Mechanismus, der die Ansprüche von Lohn- und Kapitaleinkommensbeziehern, die in der Summe bisweilen höher als die Wertschöpfung sind, in Übereinstimmung bringt ... Nur dann, wenn der Reallohn, der von den Arbeitnehmern gefordert wird, zu der Mindestkapitalverzinsung passt, ... wird auch die Inflationsrate stabil bleiben."

Das heißt: Wenn das Wachstum der Wirtschaft nicht mit jenem des Kapitals Schritt hält, müssen die steigenden Kapitalansprüche entweder mit Arbeitslosigkeit und damit sinkenden Lohnkosten, oder mit Inflation ausgeglichen werden. Das aber heißt auch, dass unter den heutigen Bedingungen Vollbeschäftigung und Kaufkraftstabilität nur durch ein Wirtschaftswachstum in den Griff zu bekommen sind, das mindestens so hoch sein muss wie die von Jahr zu Jahr exponentiell wachsenden Ansprüche des Kapitals!

Es ist verständlich, dass sich unter diesen Gegebenheiten die Parteien, Politiker und Verbände in dem Ruf nach Wachstum nicht nur einig sind, sondern sich förmlich überbieten. Vor dem Hintergrund der sozialen Folgen traut sich auch kaum noch ein Politiker, das Thema Umwelt in den Mund zu nehmen oder gar solche Ökosteuern vorzuschlagen, die den Verbrauch tatsächlich drosseln und die Umwelt entlasten würden. 

Da eine Anpassung des Wirtschaftswachstums an das Tempo der explosiven Zunahmen im Monetärbereich undenkbar ist, bleibt nur die Anpassung dieses Bereichs an die Gegebenheiten in der Realwirtschaft. Das heißt konkret, nur wenn die Zinssätze und damit die Wachstumsraten der Geldvermögen/Schulden auf die Wachstumsraten der Wirtschaft absinken, könnte die weitere Zunahme der Verteilungsspannungen verhindert werden. Und:

Zu einer wirklichen Entspannung der Situation, die neben dem sozialen Frieden auch jenen mit der Natur einschließt, könnte es dauerhaft nur kommen, wenn alle vorgenannten Wachstums- und Anspruchsentwicklungen gemeinsam gegen Null tendieren. Das zumindest in den Industrienationen, die heute ihren Abstand zur übrigen Welt immer noch vergrößern.

Sowohl bei der Bündnis-für-Arbeit-Runde als auch den Tarifverhandlungen müsste sich also, neben Arbeitnehmern, Arbeitgebern und dem Staat, im Grunde auch das Geldkapital verpflichten, seine Ansprüche an der Entwicklung des Sozialprodukts auszurichten. Dieser Effekt würde sich im übrigen automatisch ergeben, wenn der Knappheitsgewinn des Geldes, der Zins, genauso mit den Sättigungsentwicklungen in einer Wirtschaft gegen null sinken würde, wie das bei den Knappheitsgewinnen auf den Gütermärkten der Fall ist. Und zustande käme dieser Effekt, wenn man die heutige Möglichkeit des Geldes, sich bei Sättigungsentwicklungen von den Kapitalmärkten zurückzuziehen und über diese künstliche Verknappung den Zins marktwidrig hoch zu halten, unterbinden würde. Das wiederum wäre durch eine Umlaufsicherung möglich, die den regelmäßigen Kreislauf des Geldes von der Zins- und Inflationshöhe unabhängig macht.

Dass eine solche Überwindung der heutigen problematischen Umverteilungsfolgen und des Wachstumszwangs enorme positive Folgen haben dürfte, auch im Hinblick auf die Durchsetzung alternativer Energien, bedarf sicher keiner näheren Erläuterungen. Ohne diese angesprochene Korrektur verbleibt uns nur die Alternative, entweder mit mehr Wachstum den ökologischen Kollaps zu beschleunigen oder mit weniger Wachstum den sozialen. 


Erschienen in den Zeitschriften „Sozialismus", „Contraste", „Solarbrief'; „Politische Ökologie" und „ZEITPUNKT" sowie auf den Internetseiten von INWO und attac - 2014 hat die EZB mit der noch zaghaften Einführung von Negativzinsen zumindest einen Schritt in die richtige Richtung gemacht.